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2023-02-22 17:50:12 By : Ms. Lisa Li

„Eine Frau, die ihr Kind getötet hat, kann keine Sympathien erwarten.“ Das wird die Angeklagte mit gefasster Stimme im Laufe des Prozesses selbst sagen. Angesichts der Tat, die das Leben ihres Neugeborenen forderte, mag es auf den ersten Blick auch keine Alternative geben. Die französische Dokumentarfilmregisseurin Alice Diop, die den zugrundeliegenden, echten Fall einer senegalesischen Philosophiestudentin und deren Verhandlung 2016 in Saint Omer persönlich mitverfolgte, inszeniert jedoch mit ihrem Spielfilmdebüt kein klassisches Gerichtsdrama mit klaren Antworten und Schuldzuweisungen. „Saint Omer“ ist vielmehr eine dokumentarisch anmutende Erzählung, die weit über die Klassifizierung von „Gut und Böse“ hinausgeht und stattdessen die Zwischentöne herausfiltert, die unser Entscheidungs- und Urteilsvermögen aus den Angeln hebt. „Saint Omer“ avanciert damit zu einer beobachtenden atmosphärischen Charakterstudie, die nun für Frankreich ins Rennen um den Oscar geht.

Rama (Kayije Kagame) ist Literaturprofessorin und Autorin in Paris. Als sie auf den Fall der jungen Senegalesin Laurence Coly (Guslagie Malanga) stößt, ist ihr Interesse geweckt. Rama sieht in der Frau und ihrem zu verhandelnden Mordfall ihrer 15 Monate alten Tochter Parallelen zur Medeamythologie aus der Antike und damit Material für ihr neues Buch. Als sie für die Recherche in titelgebenden Ort ankommt und sich der Prozess vor ihr entfaltet, entdeckt Rama plötzlich Ähnlichkeiten zu ihrer eigenen Familiengeschichte, ihren Beziehungen und ihrer kommenden Mutterschaft. Sie erkennt eine Vergangenheit und Zukunft, die ihr Angst machen und den Fall alles andere als eindeutig.

„Saint Omer“ beginnt am Ort des vermeintlichen Verbrechens. In der Dunkelheit erhellt nur noch das spärliche Mondlicht den weiten einsamen Strand von Berck-sur-Mer, dessen Sand unter den leisen Schritten von Laurence verräterisch knirscht, während das Plätschern der Wellen langsam näher kommt. Lediglich das schwere Atmen der jungen Frau übertönt die nahende, alles verschlingende Flut, der sie ihr Kind überlassen wird. Eine erschütternde Szene, die von der anmutenden und selbstbewussten Ausstrahlung von Rama abgelöst wird, als diese im Vorlesungssaal ihre Studierenden unterrichtet und alle wie gebannt ihren Worten nachhängen. Von dieser kraftvollen Aura wird beim darauffolgenden Familientreffen mit ihrer Mutter nur noch wenig zu sehen sein. Gar scheint Rama etwas in sich zusammen zu sinken, ihre Kehle ist von den Gesprächen zugeschnürt. Mutterschaft und die innewohnende Anspannung wird in Saint Omer eine umfängliche Rolle spielen. Sie wird ein multidimensionales Bild von Erlebnissen zeichnen, das außer der sichtbaren Familien- auch unsichtbare Bande zwischen sich unbekannten Personen miteinander verknüpft.

Es ist eine kurze Einleitung der beiden Figuren, die in dem Drama eine tragende Rolle bekleiden. Dennoch ist es ein präziser Umriss zweier Frauen, deren Präsenz und deren Gefühle wie Gedanken (vor allem die Unausgesprochenen von Rama) konstant im Raum spürbar sind. Auch wenn Alice Diop ganz bedacht oft nur eine der beiden im Bild zeigt. Gemeinsam mit ihrer Kamerafrau Claire Mathon („Petite Maman“ und „Spencer“) erzielt sie in der starren Kameraführung und der dementsprechend ruhigen Bildabfolge eine stark hypnotische wie kraftvolle Wirkung. Und obwohl Guslagie Malanga eine junge Frau spielt, die im Laufe ihres Lebens in die Unsichtbarkeit abglitt. Sei es dabei das Verschwiegenwerden durch ihren Lebenspartner oder das selbst auferlegte, konsequente Verheimlichen ihrer Mutterschaft. Sogar jetzt verschwimmt sie in ihrer beigen Kleidung nahezu mit den Räumlichkeiten des Saals. Und trotzdem kann man wegen der zweifelsfrei herausragenden Schauspielleistung kaum die Augen von ihr nehmen. Regungslosigkeit und die begleitende Sachlichkeit, mit der sie ihr Leben, ihre Zweifel und ihre Ansichten während der Verhandlung teilt, heben nicht nur den dokumentarischen Charakter hervor.

Alice Diop erreicht vor allem damit, dass die Angeklagte weder für die Richter noch für uns in Kategorien gesteckt werden kann. Während Laurence später in ihrer Vernehmung irgendwann von Hexerei sprechen wird, ist es die erdrückende, zum Erfolg und zur Anpassung getriebene Kindheit, der Rassismus, das Negieren ihrer Existenz und schlussendlich Ängste, Depressionen und Einsamkeit, die sich allesamt für uns zu einem komplexen Puzzlebild einer zur Täterin gewordenen Mutter zusammenfügen. Ein Bild, das bei Rama Ängste und Sorgen, allerdings (und das nun auch bei uns) gleichwohl auf den unterschiedlichsten Ebenen gewisses Mitgefühl schürt. Ein brüchiges Bild, das von der Anklage mit all ihrer Männlichkeit hin und wieder harsch zertrümmert wird, um mit aller Gewalt zu versuchen die alleinige Schuld bei Laurence festzulegen. Ein wahrlicher Balanceakt, den die Regisseurin hier vollbringt, um die Eindeutigkeit zu widerlegen und prägende Strukturen offenzulegen. „Saint Omer“ ist ein zutiefst empathisches, bewegendes Zwei-Personen-Charakterstück mit einem starken Schlussplädoyer, das längst nicht alle Antworten hat. Manchmal reicht es aber auch einfach die richtigen Fragen zu stellen.

Wie soll man eine Tat verstehen, für die die Angeklagte selbst keine eindeutigen Antworten hat? Deren Verhandlung ein komplexes Geflecht aus Erfahrungen und Ursachen ans Licht bringt. Und deren Perspektiven auf Familie, Mutterschaft, Weiblichkeit, Immigration, Existenz, Status und der Persönlichkeit es uns unmöglich macht Schuld vollumfänglich zu definieren. „Saint Omer“ als dokumentarisches Gerichtsdrama wird gleichermaßen Spiegel und Beobachtungsstudie der Gesellschaft. Ab dem 9. März im Kino!

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